Eine Mailadresse und ihre Folgen

Wir schreiben das Jahr 1998. Es ist Weihnachtsabend.
Schauplatz: Wohnzimmer der Familie Keller in Dahn.

Meine Schwester und ich hatten schon seit langem nur einen Wunsch: Endlich auch einen eigenen Internetanschluss. So standen wir also vor dem nicht gerade kleinen Berg von Geschenken und hofften und bangten. Als wir endlich die Zeremonie von Weihnachtslieder-Singen und Weihnachtsgeschichte-Verlesen hinter uns gebracht hatten, stürzten wir uns auf die Geschenke. Nun konnte uns nichts mehr halten.

Als wir auch das letzte Geschenk aufgerissen hatten, standen wir doch sichtlich enttäuscht da... oder hatten wir das Internet nur übersehen? Überrascht schauten wir auf die kleine weiße Box, die unser Vater uns unter die Nasen hielt. Dieses Ding (unser Vater nannte es "Modem") sollte der Weg ins Internet sein? "Nun gut, wenn er das sagt", dachten wir. Voller Vorfreude machten wir uns auf den Weg zu unserem leistungsstarken (*hust röchel*) Rechner, den wir bei Aldi erstanden hatten und der über sage uns schreibe 16MB Speicher verfügte - wer da mal nicht neidisch wird ;-).

Da sich keiner in unserer Familie sonderlich gut mit Computern auskannte (meine Mutter nutzt den Rechner nur zum Briefeschreiben und mein Vater nimmt selbst dazu noch die gute alte Schreibmaschine), standen wir etwas hilflos vor dem Computer. Doch unser Vater hatte sich natürlich informiert und nach einigen langen Stunden konnten wir unsere ersten Surfversuche wagen. Doch damit sollten unsere Probleme erst losgehen.

Mich und meine Schwester verschlug es gleich in den ersten Chat. Dort kamen wir uns aber recht schnell überfordert vor, da wir mit unserem "Zweifingersuchsystem" nicht wirklich sehr schnell schreiben konnten... aber davon ließen wir uns nicht abschrecken und wir verbrachten immer mehr Zeit in diversen Chatrooms.

So kam es, dass wir auch oft nach unserer Mailadresse gefragt wurden. Wenn wir den Leuten dann sagten sie laute 320094917958-0001@t-online.de , ernteten wir meist Gelächter *grmpf*. Das Anlegen einer Alias Adresse klappte auch nicht, obwohl uns so ziemlich jeder zu erklären versuchte, wie es theoretisch funktionieren sollte. Als mir die Fragerei nach unserer "komischen Mailadresse" dann langsam zu dumm wurde, schrieb ich eine Geschichte, die allen erklären sollte, dass unsere Adresse mit Bedacht gewählt wurde.




Hier also diese Geschichte:
Es gab einmal, vor langer Zeit, als die Erde noch nicht von Menschen bevölkert war, ein Volk, das sich die Shirak nannte. In diesem Volk war es Brauch, jeden 32.ten des Monats ein Opfer darzubringen, nämlich ihrem großen Gott und Beschützer: Hyrokles.

Nun denn. Wenn dieses Opfer pünktlich vollzogen wurde, war der Gott zufrieden und zürnte ihnen nicht. Es gab also 00 Shirak, die seinem Zorn zum Opfer fielen. Nun ereignete es sich aber, dass in dem Jüngling, der auserkoren war, Hyrokles´ nächstes Opfer zu sein, eine so starke Liebe zu einer Shirak Frau brannte, dass er mit ihr in die Wälder flüchtete. Es gab aber ansonsten keine Freiwilligen, die ihre Opferung vorverlegen wollten (jeder hatte von Geburt an einen Termin, an dem er geopfert werden sollte und bis zu diesem Termin hin planten die Shirak Männer ihr Leben. Es gab keine Frauenopfer *g*). Da nun aber keiner der Männer bereit war sich früher als geplant opfern zu lassen, wurde dieser Tag zum schlimmsten Tag dieses Volkes.

Ihr habt Recht. Die Frage ist berechtigt, warum der für diesen Tag auserkorene Jüngling sein Leben nicht auch nur bis zu diesem Tag geplant hatte. So hört. Sein Vater war kein Shirak, sondern er stammte vom Stamme der Rikonen. Deswegen war dieser Jüngling (halb Shirak, halb Rikone) anders. Er hielt nichts von fest geregelten Abläufen und hatte schon als Kind andere Interessen als alle anderen Kinder seines Alters.

Er floh also mit seiner Freundin in die Wälder. Da wurde Hyrokles sehr, sehr wütend und schickte einen Blitz vom Himmel, der 949 Shiraks tötete. Solch ein Blutbad hatte es das letztemal in dem großen Krieg gegen die Zoren gegeben, als es Streit gab um die Wasserläufe im Land. Dazu aber ein ander Mal mehr. 17 Tage und 17 Nächte trauerten die Shirak um die Verstorbenen. Das Dorf wurde in Dunkelheit gehüllt, denn Hyrokles verfinsterte es aus Rache für sein verweigertes Opfer. Den Shirak ging es sehr schlecht. Sie froren und hatten kaum zu essen. Jeden Tag hofften sie auf ein Zeichen von Hyrokles. Ein Zeichen seiner Gnade, dass er ihnen verziehen hätte.

Endlich nach 9 Wochen geschah es. Der Himmel brach auf und eine Stimme sprach: "Ich bin der Sohn von Hyrokles, Sohn der Göttin Hyopsavie, wie es euch die Sage lehrt. So vernehmt meine Worte. Mein Vater starb gestern aus Gram. Er konnte nicht verstehen, wie das Volk, das ihm Jahrhunderte lang so treue Dienste erwiesen hatte, sein Opfer vergessen konnte. Vor lauter Wut schickte er euch einen Blitz hinab, der viele eures Volkes tötete. Dies, so steht es geschrieben, ist kein Verhalten, wie es sich für einen Gott ziemt. Dem Gott der Götter missfiel das Verhalten meines Vaters und er machte ihn zu einem gewöhnlichen Sterblichen. So höret. Ich will euch keinen Vorwurf machen. Ihr habt genug gelitten. Ich möchte euch aber sagen, dass auch ich Opfer fordere zum Beweis eurer Verbundenheit. Ich möchte genau wie mein Vater 0001 Opfer. Nicht mehr und nicht weniger". Die Stimme verstummte und die Finsternis, die über dem Dorf gelegen hatte, verschwand. Die Shirak waren sehr froh. es ging ihnen von Tag zu Tag besser. Von diesem Tag an kam es nie wieder zu solcherlei Vorkommnissen und die Shirak lebten in Frieden mit ihrem obersten Gott.

Ihr seht also, ich wählte meine Mailadresse zu Ehren des Volkes der Shirak, die mir sehr nahe stehen. Ich verehre dieses Volk, denn es war sehr weise. Es hatte Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und auf andere Fragen, die uns heutigen Menschen ewig ein Rätsel bleiben werden. Woher ich dieses Volk kenne? Bei der großen Katastrophe, die dieses Volk heimsuchte, wurde nicht, wie vermutet, das ganze Volk ausgelöscht. Nein. Ihr erinnert euch an den Jüngling, der in in den Wald geflohen ist? Seine Nachfahren überlebten den großen Vulkanausbruch, der das ganze Volk der Shirak vernichtete.
Auch in meinen Adern fließt Blut der Shirak und Rikonen.
Es gibt Geheimnisse auf dieser Welt, die auch Mulder und Scully niemals lösen werden.
Ich vertraue auf eure Verschwiegenheit.




Natürlich sollte diese ganze Geschichte ein Spaß sein. Aber manche, denen ich sie geschickt habe, haben das irgendwie missverstanden. Auszüge aus Antwortmails, die ich bekommen habe:

Mail 1)
"Du musst ja mächtig viel Langeweile gehabt haben! Wie wäre es, wenn du nächstes Mal ein ganzes Buch schreibst? Aber ist schon O.K. Dann weiß ich ja schon, was ich dir schreiben kann, wenn mich mal die Langeweile plagt. Das mit deinen Völkern und Blitz und dieser Hyrokloß, ich weiß irgendwie nicht, was du mir damit sagen willst! Und noch was: Den Fall, den der heilige Mulder nicht lösen kann, den gibt es nicht!! Dass du Shirak und Rikloben in dir hast, möchte ich auch bezweifeln, denn dann müsstest du ja ungefähr 4 Millarden Jahre alt sein!
Möchtest du noch etwas über deine Lebensgeschichte enthüllen? Na dann einfach aufschreiben und herschicken! Ich freue mich über jede Mail von dir! Egal ob Quark drinsteht oder was Informatives!"
(Anm: "Egal ob Quark drinsteht oder nicht" - das ist ja mal nett *grummel*).

Mail 2)
"Nun glaube ich wirklich, dass du in einer virtuellen Welt lebst. Was soll diese Geschichte mit den Shiraken? Studierst du etwa Geschichte? Aber es war nett, dass du dir Zeit genommen hast, diese Nummer zu beschreiben. Wenn du mir noch weitere Geschichten schreiben möchtest, dann will ich dich dabei nicht aufhalten, aber man könnte doch über so viel anderes (aus meiner Sicht Interessanteres) schreiben. Wie geht es dir denn sonst so - außer diesen Shiraken, das tönt ja schon beinahe, als ob du einen strengen Glauben hast. Ist es so?"
(Anm. Strenger Glaube ??? Was man in so eine Geschichte nicht alles reininterpretieren kann... *g*)